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Die Schulfreundin

(Ach, Suse – eine Art Bilanz)

 

Die Anfänge liegen so rund 60 Jahre zurück (sechzig – also: SECH-ZIG).

Wir wurden eingeschult, für mich ein weiter Weg ins Tal hinab, durch den Ortskern, und nach der Sieg-Brücke auf der anderen Seite genauso wieder dort den Berg hoch. Die eine kleinstädtische Seite die der Katholiken – die Protestanten, deren Schule auf meiner Wohnseite lag (Schule wie Kirche), auf der anderen Brückenseite den Fluß überquerend. Das Nadelöhr konfessioneller Begegnungen. Manchmal flogen Steine. Aber davon wollte ich gar nicht erzählen: Suse wohnte auf der richtigen Seite direkt gegenüber der alten Volksschule. Und ihre Klasse, die der Mädchen, war auf der anderen Flurseite im alten Backsteingebäude. Pausenhof mit weißer Linie. Drüben standen die Mädchen, Suse mit den langen dunklen Haaren, an ihrer Seite eine der Freundinnen, die es mir mehr angetan hatte – deren Heimweg, auf einen noch anderen Berg, hatte ich schon mal nach Schulschluß verfolgt. Das war aufregend. Sie sah aus wie die Schwester von Winnetou, ich vergaß zu atmen. Sie weiß bis heute nichts von mir. Und ihren Vornamen habe ich seit einer Ewigkeit vergessen.

Suse kam nach vier Jahren, genau wie ich, auch auf die Realschule – wieder alles parallel. Neu war nur der Religionsunterricht bei einem verkniffenen Kaplan – gemeinsam mit den Mädchen in deren Klassenzimmer. Bei uns Jungs im Schulraum das gleiche Spiel mit den Evangelischen. In jeder Klasse der Mittelgang als Trennung, wie in der Kirche auch. Ich stotterte mir vor dem Sadisten im Nacherzählen von biblischen Märchen einen ab wie auf dem Scheiterhaufen, eine Hinrichtung vor den Mädchen. Exekution durch einen Gockel in Schwarz, der auf Mädchen-Lacher abzielte. Suse betrübte es, sie half mir wispernd über die Grenze hinweg auf die Sprünge. In Reli war sie schon mal gut – die katholische Kirche kaum 50 Meter von ihrem Elternhaus. Auch wieder ein atemberaubendes Erlebnis, wie sie mit tiefer Stimme zu mir wisperte, besser als ein Traum. Aber erst nach acht oder neun Jahren sprachen wir direkt miteinander – sie studierte beflissen auf Lehramt, ich verdingte mich notgedrungen in der Verwaltung, genauso wie sie weit von Zuhause entfernt. Die Kirmes im Heimatort führte uns zusammen, Auto-Scooter fahren, Radler trinken, Händchen halten im Irrgarten. Suse nun brünett. Junge Erwachsene waren wir endlich. Es war ein schöner Tag – unser einziger gemeinsamer Tag. Ihre mürrischen Eltern sahen uns – sie mißbilligten das mit mir, das konnte ich auf Entfernung unschwer sehen. Sie ging entschlossen zu ihnen rüber, trotzig sprach sie mit ihnen, ihre herbe Stimme viele Meter von mir entfernt, und die verschlagene Schwester mischte sich mitsamt keifendem Dackel auch noch mit ein. Und das war dann mein Tag mit Suse – spätere hilflose Briefe blieben unbeantwortet. Die Entfernung heilte meine tiefe Enttäuschung. Langzeitheilung über viele Jahre.

Die Distanzen der drei Städte so weit, irgendwelche ungeklärten Mißverständnisse, wohlmöglich der Einfluß ihrer schrägen Schwester – nach wieder rund zehn Jahren ein Profiradrennen im Kern der Heimatstadt nahe der Brücke. Ein Grund für mich zur Heimkehr. Das bunte Fahrerfeld sirrte vorbei. Aus dem Augenwinkel sah ich sie sofort, Suse, leicht erblondet. Sie bemerkte mich viel zu auffällig von der anderen Straßenseite aus, hektisch schaute sie um sich, an der Absperrung war kein Vorbeikommen. Hurtig kam sie im weiten Bogen zu meiner Seite rüber, schlenderte nun auf einmal, mich „nicht-erkennen“ spielend, unbeteiligt daher, ließ ihren Blick der Form halber mit den sausenden Rädern mitgleiten, näherte sich mir allmählich, den Blick überall hin, nur nicht zu mir – ich grüßte sie. Sie spielte ihr plötzliches Erstaunen viel zu schlecht und kramte zu aller Unseligkeit auch noch scheinbar bemüht in ihren Erinnerungen - doch ja, irgendwie erkannte sie mich letztlich. Das mußte ich sofort ahnden, die längst vernarbte Wunde war sofort aufgerissen. Beim Erzählen des „Und Du so? Erzähl mal!“ hatte ich viel zuviel an meiner Brille herumzurücken, damit sie den Ring auch bemerkte. Um ganz sicher zu gehen, erwähnte ich zusätzlich noch meine Frau, die nicht mitkommen konnte, so am Rande, und abrupt hieß es: „Mach’s gut, bis dann mal wieder.“ Die Geräuschkulisse schwoll wieder an. Die vielen emsigen Waden hatten eine weitere Runde hinter sich.

Nun sind Jahrzehnte vergangen. Meine Frau hatte unterdessen völlig den Verstand verloren, verdämmerte, der Realität Leben entglitten und unrettbar in einen religiösen Wahn geflohen, war jetzt vor zwei Jahren im geschlossenen Heim endgültig gestorben, und meine andere Partnerin, Lebensmensch und Retterin, war ihrem Lebenstraum gefolgt und ausgewandert – und „hat somit wohl auf die ihr eigene Art überlebt“, frotzele ich gerne abgründig, mit dem Lebensschicksal versöhnt und abgefunden. Ich bin gerne allein. Meine Winterbesuche auf der kleinen Insel: geregelte Teilzeit-Zweisamkeit.

Jetzt bin ich 66 Jahre alt, Suse wohl auch. Im Internet hat man mich gefunden, Klassentreffen – Realschule, Wiedersehen der Mittelgereiften nach über 50 Jahren – und diesmal „Mädels und Jungs: gemeinsam“. Ob ich was vortragen könnte, vielleicht von der damaligen Zeit, da hätte ich doch bestimmt auch drüber geschrieben. Man würde sich freuen, ich hätte ein großes und sehr interessiertes Publikum. Über siebzig seien insgesamt aus beiden Klassen noch zu erreichen gewesen, immerhin!

Ich fragte eine Frau aus dem Veranstaltungskomitee unverzüglich nach Suse, weil mein einladender Klassensprecher nicht alle Mädels von damals kannte, er hatte an sie das Handy weitergegeben.

Ach Suse – nein, die könne gar nicht kommen, einer der tragischen Fälle, denn sie lebe nicht mehr. Fürchtete ich doch irgendwas in der Richtung: Ich hatte Jahr für Jahr ihr Elternhaus verfallen gesehen, wenn ich an meiner alten Schule vorbeifuhr und unwillkürlich Erinnerungen kamen. Komisch kam es mir mit der Zeit vor, das Haus in unmittelbarer Nähe von Schule und Kirche gespenstisch verwaist. Nach dem Tode der Eltern sei es wohl zu einem Erbschaftsstreit und auch undurchsichtigen Begebenheiten mehr gekommen, zudem ein glückloses Berufsleben als Grundschullehrerin, das habe sie nicht verwunden, war sicherlich alles zuviel für die alleinstehende Suse. Sie sei mit allem nicht mehr fertig geworden, habe es geheißen – wobei sie doch in der Schulzeit sooo religiös war! – aber man werde „auch IHRER gedenken“ wie all der natürlichen Todesfälle, die es selbstverständlich auch schon gebe, völlig klar, man schreibe das Jahr 2017 und sei nicht in Irland, nicht wahr? Also alle fröhlich zusammen: ehemalige Jungs und Mädels, „beide Konfessionen endlich vereint“, gluckste sie, viel geschehen sei bisher – spannend werde das. Alle freuten sich.

Mir fiel auf einmal ein, daß ich doch zum fraglichen Zeitpunkt in ein paar Wochen auf der Insel sein würde – Beginn der Winterzeit. Leider könne ich ausgerechnet da nicht in unser altes Städtchen kommen, das sei nun aber auch zu dumm – schade. Ich erwähnte nicht, daß ich mich aus der scheiß Religion endlich, wenn auch viel zu spät, befreit hatte.

 

 


 

 

Kein schlechter Mensch

 

Die haben gerade mit uns die Folge 2473 abgedreht. Bei 2500 ist wieder so ein Jubiläums-Treffen angesagt – für die treuen Fans, unsere Gefolgschaft, manche jahrzehntelang dabei. Ja, wir sind zusammen alt geworden. Und ich bin immer noch der gut situierte smarte Typ, „John D. Smile“, so kennt man mich, verschmitzt, kein übler Typ, ein wenig schlitzohrig, gewieft, mittlerweile zum Charmeur der reiferen Schule entwickelt. Die Story lebt mit uns weiter, altert mit uns. Irgendwelche Nebenrollen, sogar ein Teil des Hauptpersonals, sind mit ungelernten Dilettanten besetzt. Ich habe das Handwerk von der Pike auf gelernt, Schauspielschule, Theater-Erfahrung, aber ich bin hier gelandet und weiß Gott, ich bin froh darüber.

   Nun ja, ein Fan-Treffen also ist geplant, von mir aus, kein Problem. Ich bin eine der „Fünf Größen“, wie es heißt, wir sind nie umbesetzt worden, wohingegen andere rein- und rausgeschrieben wurden. Wir sind felsenfeste Verankerungen, die Fernseh-Serie gäbe es ohne uns eigentlich nicht – geradezu undenkbar. Und das macht mich froh. Auch heute noch bekomme ich Briefe der ungeteilten Aufmerksamkeit, wie man alle meine Entscheidungen und Möglichkeiten mit mir „lebt“, wie man „mitgeht“ – ich werde viele wieder- treffen, wie schon bei den großen Feiern zur Folge 1000, zur 2000sten und nun also steht zwei/fünf an. Gerne, es läuft nach wie vor gut, die Quote variiert nur leicht im grundsätzlich stabilen „sendegeeigneten“ Bereich, ist im letzten Jahr sogar ein wenig gewachsen, weil die kleine Dauer-Nackte ins Spiel kam. Ist auch egal, sie bringt ein Quoten-Hoch, es läuft bestens.

   Es heißt, auch wenn man nicht so viel Geld habe, wie John D. Smile, man könne sich dennoch gut mit MIR identifizieren, ich verstünde zu leben - ICH ermutige, nicht aufzustecken; ein Lebenskünstler sei ich – meine wohlsituierte Lebenslage mißgönnt mir wahrhaft keiner.

   Privat habe ich eine schlimme Scheidung hinter mir, die zweite, diesmal mit fatalen Auswirkungen. Mein Haus ging über den Jordan, versteigert, alles geteilt. Und das ging dann auch ein Weilchen durch die Presse. Ich fand glücklicherweise eine Kleinwohnung unweit der Filmstudios, ein Segen ist das, mein Golf, den ich für die große Limousine gebraucht übernahm, kann die Woche über stehenbleiben, ich kann zu Fuß zu den täglichen Dreharbeiten schlendern. Ja, ich lerne gar meinen aktuellen Text unterwegs. Es macht nichts, wenn mich Leute mitunter ansprechen, nicht mit meinem richtigen Namen, sie alle kennen nur „John“, und auch wenn sie es wissen, sagen sie großzügig blinzelnd, „Ach, ich sage einfach John, nicht wahr?“ – Und ich bin jetzt für alle John D. Smile; ich merke es selbst und muß aufpassen, bei der Unterschrift nicht dieses Pseudonym, diese jahrelang anhaftende Rolle weiterzuleben.

Zu keiner Zeit habe ich die Notwendigkeit verspürt, das Schicksal durch Betäubung jedweder Art wegzudimmen. Bei meiner Disziplin neige ich erst gar nicht dazu. Alles in allem habe ich mich aber arrangiert. Wenn man nicht zu den ganz Großen dieses Geschäftes gehört, um die immer gleich besetzten Star-Rollen einzusacken, kann man froh sein, so gesichert unterzukommen – ich habe noch Glück gehabt.

   Ich bin schließlich nicht mehr jung – und in dieser Rolle kann ich weiterhin altern. Kein Ende in Sicht, die Rente bekomme ich finanziert – und sicherlich kann ich an Bord bleiben, denke ich mal: Ich muß nicht mehr schwimmen! Ich hatte anfangs mal ein Ausscheren versucht, zwecklos, hier wurde ich unablässig gebraucht, schon rein zeitlich gesehen konnte ich nichts anderes angehen. Auch war es bei den beiden bescheidenen Versuchen nicht gut gelaufen, ich kam mir vor wie auf der Flucht vor dem mir zugeteilten Hamsterrad. Ich konnte stets froh sein, hier immer wieder zu landen, aufgefangen zu sein. Den Sammel-Manager für unser Klientel habe ich abgekoppelt, solche Beratung  brauche ich nicht, irgendeinen Skandal provozieren – Hauptsache, „in den Boulevard“ zu kommen; nein danke.

   Doch manchmal fehlt mir die geträumte Erfüllung. Es ist keine Berufung mehr, es ist zum Job verkommen, alle Illusionen waren auf einmal dahin. Die Sicherheit obsiegte – John D. Smile machte stets seinem Ruf alle Ehre. Und damit könnte ich doch zufrieden sein - nun, bin ich auch, aber ich spüre, wenn ich mich wirklich und ernsthaft hinterfrage, daß ich dabei bin, mich zu verlieren.

   Ich bin kein schlechter Mensch – aber ich bin irgendwie nicht mehr ICH.

 


 

 Das Fotoalbum

 

Das Gespräch drohte diesmal zu erlahmen. Der Autor und die Autorin, es schien ihnen der Stoff auszugehen. Ausgerechnet ihnen. Das war noch nie so gewesen, denn sie trafen sich unregelmäßig, aber dennoch häufig bei den verschiedensten Anlässen - Lesungen, Autorentreffen, Preisverleihungen, überall, also auch nicht nur in Deutschland, und gerade diese beiden, die eine Altersspanne von mehreren Generationen trennte und nicht nur das – es gab kaum erkennbare Gemeinsamkeiten, was vielleicht auch den Reiz der höflichen Begegnungen ausmachte.

   Er hatte noch Kaffee nachbestellt, weil er schon eine Tasse ausgetrunken hatte, als sie wie verabredet an den Tisch kam und sich aufatmend auf den von ihm bereitgerückten Stuhl fallen ließ. Schon bald schaute er wie immer ihrem Ritual der Teebeutel-Behandlung und -Entsorgung zu. ‚Im Café – nur einen Tee!‘ Er mochte seinen Scherz und sie hatte auch schon wiederholt freundlich zugeneigt mitgelacht. Er, der erfahrene Dichter von Welt, vielfach mit Preisen bedacht und im Grunde genommen beim großen Publikum erfolglos. Sie, die junge Mutter und Freizeitautorin, die einen Bestseller an den anderen reihte, mühelos. Und ihr Stil unterhielt auch ihn glänzend, zumal er sie seit Jahren persönlich kannte. Als erbitterter Junggeselle, den er auch literarisch auslebte, holte er sich bei ihr das moderne Leben von draußen in seine Zurückgezogenheit ergänzend herein; von der Quelle geschöpft, wie er mal sagte, er profitierte von ihrem Familienleben, ihrem überaus erfolgreichen Anerkennungskampf in der Gesellschaft und auch gegenüber einem Mann, der im Laufe des auf einmal prasselnden Geldsegens seine Einstellung zur Schreiberei der Ehefrau freudig neu überdenken konnte – und diesen Erfolg auch noch seiner hochmütigen Toleranz zu verdanken sich herausnahm. Und das alles bot genug Stoff für ihre umsatzträchtigen Romane, die wohl amüsant erschienen, aber auch den Tiefgang nicht gänzlich aussparten – das war schon anerkennenswert, in seinen Augen. Der alte Autor saß bei ihr niemals auf dem hohen Roß – bei ihr, nie! Er mochte sie einfach.

   Er spielte sich nicht als der erfahrene Gönner auf, sondern lobte sie in den höchsten Tönen, wie sehr er ihren Triumphzug durch die Verkaufslisten glaubhaft aufrichtig bewunderte – und das ließ sie dann seine Literatur in tiefer Hochachtung bewundern; und was er auch wieder für überragende Kritiken vorzuweisen hatte, sie las das alles! Und nicht nur von ihm, sondern gerade über ihn: den dem Leben abgewandt lebenden Eigenbrötler, den Dichter alten Schlages.

   „Weißt Du,“ hebt er wieder an und er atmet tief, denn es hat ihm auf der Seele gelegen, „mit den anderen kann ich ja nicht so darüber reden, und ich meide all diese Pseudo-Zirkel der sogenannten Kollegen wie der Teufel das Weihwasser, es heißt ja: Nie über ungelegte Eier reden – und bei uns Schreibenden gilt das aus ganz besonderen Gründen der Konkurrenz und überhaupt – erst das fertige Werk wird hervorgeholt, wenn es eh allen zugänglich ist … aber mit Dir ist das ganz anders. Ich habe da so eine Idee und es würde mich interessieren, was Du davon hältst.“

   Sie ist sehr verwundert, nimmt wieder ein Schlückchen mit damenhaft abgespreizten Fingern (er war bislang noch nicht dahintergekommen, ob es wahre Keckheit oder Selbstironie war), fühlt sich wie immer von ihrer auch heute noch unvermindert reizend Jugend versprühenden Gegenwart geehrt, daß er sie hier und jetzt nach der Autorentagung ins Vertrauen zu ziehen gedenkt – das hat es sonst eigentlich nicht gegeben, und sie schreibt es ihrer nun schon viele Jahre andauernden platonischen Freundschaft zu, die bereits begonnen hatte, da war sie noch nicht mal verlobt und schrieb noch kämpferische Spaßromane aus dem bunthaarigen Punkmilieu, dem sie vorgab, anzugehören (und jetzt geckenhaft die Finger abspreizen – zu schön!). Es war nicht so, aber das ahnte und das hatte er, im Gegensatz zur breiten Masse, unwillkürlich gewußt.

   „Ein Fotoalbum, ich habe es auf einem Flohmarkt gesehen. Ein familiär gefüttertes umfassendes Gebilde, kiloschwer, beginnend mit sepia Minibildchen, gezackt wie Briefmarken bis hin in die, ich schätze mal, Sechziger. Eine Schwarte voller privater Einblicke und Ansichten.“

   „So etwas … das Stück Privatleben – auf einem Flohmarkt?“ Das kann sie gar nicht glauben, was er da sagt. Das macht man doch einfach nicht.

   „Es ist ja auch egal, nur eine Geschichte – ich habe übrigens wirklich schon Fotoalben auf Flohmärkten gesehen, ganz bestimmt – aber dieser Plot hier soll folgendermaßen spielen.“ Und dann nimmt er erst einmal das Kännchen in Empfang und es amüsiert sie, wie er, der alte Hund, der jungen mit dem Po wackelnden Bedienung kurz, aber für sie bemerkbar, hinterherschaut. „Ein richtig umfassendes Fotoalbum – und unser Held erwirbt es von den jungen Leuten, die das ganze massenhafte Zeug aus einer Hausratsauflösung verscherbeln, kurz und gut, er bezahlt die geforderte geringe Summe und holt das gewichtige Stück mit nach Hause. Er schaut es durch…“ -„Also schon das geziemt sich irgendwie nicht, also mit Verlaub, wenn wir nun auch irgendwie die Rollen im Leben tauschen, aber das erscheint mir doch verwegen, wer vermag denn…“ -„Gemach, unterbricht nun er sie, wie sie es bei ihm getan hat, „es muß ja auch nicht unbedingt ein Schriftsteller sein, es kann sich ja um einen altersmilden Kommissar handeln – ja klar, genau das hat dann auch einen tieferen und nachvollziehbaren Sinn, er schnüffelt sozusagen, weil er das ganze Leben lang nichts anderes gewohnt ist.“

   Sie sitzt jetzt unruhig, es scheint ihr der Gedanke nun nicht mehr allzu unbehaglich, doch, damit könnte sie klarkommen. „Und dann entdeckt er sicherlich Anhaltspunkte, die ihn auf eine Spur führen – hier wurde ein Erbonkel ums Leben gebracht, weil das Album abrupt in den Sixties endet und noch einige Seiten sind freiiii – oioioi  – also hör auf, das ist nicht Dein Metier, großer Dichter.“

   Wenn sie so nachdrücklich ironisch die Stimme erhebt - bezaubernd … Scheu war noch nie unbedingt ihre Sache gewesen, schon gar nicht ihm gegenüber, was er aus unerfindlichen Gründen bei ihr stets und gerne durchgehen ließ, nicht nur das, von Anbeginn zu schätzen wußte, weil es ihm gleichsam behagt.

   „Nicht umgebracht – aber aus dem Leben aussortiert, ab ins Heim, den ganzen Plunder braucht Onkel Otto ja nicht mehr. Und dieses Nichten-  und Neffen-Gesindel verscherbelt alles, und wenn es nur Münzen bringt. Weg damit. Die Gnadenlosigkeit der im Grunde menschlich völlig unberührten, weitentfernten Nachkommenschaft quasi!“

   „Immerhin haben sie es nicht dem Müll zugeführt – ist doch was.“ Eine kleine zynische Hereingabe. Sie will eine Lanze für die Jugend brechen, aber geheuer ist und bleibt es ihr nicht. Beide sinnieren über ihren Getränken mit weit entrückten Blicken – auf einmal schlägt sie das bislang entbehrliche Löffelchen an den Tassenrand und es bricht aus ihr heraus wie eine Eingebung: „Der olle Bulle macht den abgeschobenen Tattergreis nach intensiver Recherche irgendwo in einem heruntergekommenen Loch auf einem Alten-Abstellgleis ausfindig und übergibt ihm dieses über Jahrzehnte akribisch belegte Stück Familiengeschichte … und sie treffen sich von da an regelmäßig und immer, wenn dem uralten Herrn wieder ein wenig die hellen Momente kommen, dann lösen die Fotos zu den alten Geschichten die Erinnerungen aus. Der Kommissar wird Autor und siehe, er verkauft in diesem Konzept eine ganze Serie Anekdotensammlungen, Band für Band, Jahr für Jahr … also bitte, das ist nun wirklich nicht Dein Niveau, nimm es mir nicht übel, laß das nur sein.“ So empört ist sie ihm noch nie in den Weg getreten, sie gebärdet sich geradezu als feingeistige Nestbeschmutzerin. Es regt sie wahrhaftig auf.

   Sie schweigen, zusammen, jeder für sich.

   Als Herr der alten Schule zahlt er und meint: „Denk mal drüber nach.“ Es verwirrt sie, sie muß den Zug erreichen, deshalb fragt sie ihn noch, was nun anstehe. „Na, die kalte Jahreszeit – ich lese auf den Balearen, wie immer. Dort habe ich ein adäquates Publikum, Menschen, die dort auch die müde gewordenen Knochen im milderen Klima schonen, Du weißt das ja, es ist für mich schon fast eine altgeübte Lesereise als liebgewonnene Gewohnheit – das langweilt mich nie, mir tut das mediterrane Klima gut. Die Entlohnung geht auch in Ordnung. Und ich habe daheim noch ein Projekt liegen…“  und er lächelt sie verschmitzt an, „aber darüber reden wir natürlich nicht. Meine Geliebte -die Sonne- ruft – und ich erhöre sie!“ Mit großer, den Himmel umarmenden Geste, ist er aufgestanden und macht gleich bei ihr weiter. Sie weiß es, sie kennt ihn, sie gönnt es ihm. „Im Frühsommer dann wieder in Berlin – the same procedure und so?“ Er nickt zuversichtlich, Einzelheiten vereinbare man dann wieder schriftlich, wie immer. Sie küßt ihn forsch und schnell auf die Wangen. Sie trennen sich rasch und bereits ein wenig gedankenverloren.

*

   Bei ihr haben schon auf der Zugfahrt die sprühenden Gedanken ein Sperrfeuer eröffnet. Der Kuli rast durch die Blöckchen-Seiten. Die Familiengeschichten empfindet sie so langsam als ausgelutscht, ein neues Betätigungsfeld muß beizeiten erschlossen werden …ob er ihr das heute bei ihrem Treffen im Café leutselig nahebringen wollte? Sie wird ihn fragen, nicht am Telefon, das würde ihn zu sehr überfallen, aber in einem sich sorgsam entwickelnden Brief könnte sie sich die Materie zueigen machen. Für ihn war es nun wirklich nichts. Nur wenn es ihn nicht störte, natürlich, aber versuchen wollte sie es – und reizvoll konnte sie sich die neue Aufgabe durchaus vorstellen. Ein neues saftiges Gebiet lieber beizeiten selber betreten, als von der geneigten Leserschaft auf dem alten dem Verdorren ausgesetzt zu werden. Rechtzeitig die Notwendigkeit eines erneuten Umschwenkens erkennen, sie kannte sich da ja schließlich aus.

*

   Als er sein altes Haus in der zugewachsenen Abgeschiedenheit erreichte, war schon die Nacht hereingebrochen. Er machte Licht, lüftete ein wenig und ging auf den Wohnzimmertisch zu – da befand sich das voluminöse Fotoalbum. Er hatte es auf dem Dachboden wiedergefunden, nach Jahrzehnten, er hatte es völlig vergessen.

   Er war allein. Es lag noch viel Arbeit vor ihm.